Was ist häusliche Gewalt?

Ein systematischer Kreislauf

Unter "Häusliche Gewalt" wird neben Gewalt in der Paarbeziehung auch innerfamiliäre Gewalt gefasst. Um unseren Arbeitsbereich Partnerschaftsgewalt einzugrenzen, benennen wir die Gewaltform explizit. Partnerschaftsgewalt bezeichnet Gewalt zwischen Personen in einer Paarbeziehung. Sie kann verschiedene Formen und Ausprägungen annehmen: körperliche, sexualisierte, psychische, soziale, digitale und wirtschaftliche Gewalt. Die Gewaltform wird angewendet um Kontrolle über die betroffene Person auszuüben. In der Regel ist sie kein einmaliges Ereignis und endet nicht von allein. Oft handelt es sich um einen systematischen Kreislauf der Gewalt. Sie kann massive Auswirkungen auf die Gesundheit und das soziale Leben der Betroffenen haben. Das gilt auch und gerade für Kinder, die die Gewalt oft miterleben. Gewalt in der Paarbeziehung richtet sich zu einem sehr großen Teil gegen cis Frauen, trans* Frauen und non-binäre Personen [2]. Historisch gewachsene patriarchale Strukturen bedingen und begünstigen diese Gewaltform und prägen vor allem auch die ungleichen Machtdynamiken innerhalb der Paarbeziehung. Fast immer erhebt die gewaltausübende Person völlig unberechtigte Besitzansprüche gegenüber der betroffenen Person, die die Gewalt umso lebensgefährlicher machen, da sie schlimmstenfalls im Femizid enden kann.

Ein geschlechtsspezifisches Phänomen¹

Gewalt in der Paarbeziehung richtet sich zu einem sehr großen Teil gegen weiblich gelesene Personen [2]. Das Lagebild häusliche Gewalt 2023 zeigt, dass 79,2% der Betroffenen von Partnerschaftsgewalt Frauen waren. In 77,6% der polizeilich registrierten Fällen von Gewalt in der Paarbeziehung war die gewaltausübende Person männlich. [3,4,5]. Von Mehrfachdiskriminierung und sich überschneidenden Unterdrückungsstrukturen betroffene Personen sind aufgrund ihrer gesellschaftlichen Marginalisierung auch in Bezug auf Gewalt in der Paarbeziehung besonders gefährdet, da sie oftmals strukturell von Schutz und Hilfe ausgeschlossen sind oder der Zugang dazu erschwert ist. Darunter fallen zum Beispiel Rassismus, Queerfeindlichkeit, Ableismus und Klassismus [6,7]. 

Wen sprechen wir an?

Geschlecht ist fluide und es gibt mehr als nur binäre Kategorien. Wir sprechen mit unserer App alle FLINTA*-Personen“ [8] an, die von dieser Gewalt betroffen sind. Wir schreiben dies aus, sofern es sich nicht um externe Statistiken handelt, bei denen oftmals nur die binären Geschlechtskategorien "cis Mann" und "cis Frau" [9] erhoben werden. ​Alle FLINTA*-Personen können von Gewalt in der Paarbeziehung in besonderem Ausmaß betroffen sein. Die Verwendung des Akronyms soll die Bezeichnung der Zielgruppe klarziehen, jedoch unterschiedliche Diskriminierungen und Gewalterfahrungen sowie Intersektionalitäten innerhalb der angesprochenen Gruppen nicht unsichtbar machen. Die Gemeinsamkeit ist, dass die erfahrene Gewalt geschlechtsspezifisch ist und die Gruppen alle patriarchal, jedoch auf verschiedene Weise und in unterschiedlichem Maße diskriminiert werden. Uns ist bewusst, dass auch weitere Personengruppen von häuslicher Gewalt betroffen sein können.​

Wann wird aus Liebe Gewalt?

Gewalt in der Paarbeziehung ist meist ein schleichender Prozess. Sie beginnt in ganz alltäglichen Situationen. In der Regel steigert sie sich im Laufe der Zeit. Viele Fälle enden leider sogar tödlich mit einem Femizid.

In gewaltbelasteten Beziehungen gibt es verschiedene Phasen, die sich wiederholen. Gewaltausübende Personen setzen oft gezielt Strategien ein, um sich Vorteile zu verschaffen. Zum Beispiel isolieren sie Betroffene von ihrem Unterstützungssystem. So verlieren diese das Gefühl zu sich selbst und glauben nicht mehr daran, sich eigenständig aus ihrer Lage befreien zu können.

Frühe Warnzeichen sind schwer zu erkennen und werden oft nicht ernst genommen. Gewalt ist dabei nicht immer gleich "zuschlagen". Kontrolle und Isolationsmechanismen sind auch eine Form von Gewalt und sollten als solche behandelt werden.

 

155 Femizide in 2023⁵

Femizide sind Tötungen "einer oder mehrerer Frauen durch einen oder mehrere Männer, weil sie Frauen sind.” (10). Laut polizeilicher Kriminalstatistik gab es in Deutschland allein im Jahr 2023 155 Femizide. Das heißt, dass an jedem 2,4. Tag eine Frau durch ihren (Ex-) Partner getötet wurde - an jedem Tag gibt es einen versuchten Femizid. Sie sind keine Einzelfälle, sondern haben System. Femizide sind der gravierendste Ausdruck patriarchaler und geschlechtsspezifischer Gewalt: "Insgesamt wird deutlich, dass das gesellschaftsübergreifende Phänomen, Symptom von nach wie vor bestehenden patriarchalen Denkmustern und Strukturen ist" (11).

Eine Gruppe Mädchen schaut in die Kamera © Gemma Chua Tran
Es betrifft uns alle

Auch wenn die Vorurteile etwas anderes sagen: Geschlechtsspezifische Gewalt in der Paarbeziehung existiert in allen Gesellschaftsgruppen. Sie betrifft Personen unabhängig von ihrer finanziellen Situation, ihrer Herkunft oder Bildung, dem Einkommen oder des Alters [12]. Jede dritte Frau ist von dieser Gewalt im Laufe ihres Lebens betroffen [13]. Die Zahlen sind nicht rückläufig, sie steigen sogar seit Jahren an. Geschlechtsspezifische Partnerschaftsgewalt ist kein individuelles, sondern ein strukturelles Problem. 

Die Gewalt hat immer mit Macht und Kontrolle zu tun. Durch patriarchale Vorstellungen werden gesellschaftliche Strukturen und Ungleichbehandlung gestützt. Gewaltausübende Personen fühlen sich im Recht. Oft holen sich betroffene Personen aus Furcht keine Hilfe. Das Umfeld und die Gesellschaft greifen oftmals nicht ein oder tragen sogar dazu bei, die Gewalt aufrechtzuerhalten.

  • 21.11.2024 | Lesedauer: ~ 22 Minuten Man(n) tötet nicht aus Liebe - stoppt Femi(ni)zide!
    Femi(ni)zide sind keine Einzelfälle. Immer wieder sehen wir Berichte über getötete feminisierte Personen, cis Frauen und trans* Frauen, die von ihren (Ex-)Partnern oder cis Männern aus dem nahen Umfeld ermordet wurden. Das ist dramatisch und inakzeptabel! Anlässlich des 25.11. dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen - möchten wir über die höchste Stufe von Gewalt an FLINTA* aufklären. Nicht nur am 25. November sondern jeden Tag fordern wir: STOPPT FEMI(NI)ZIDE!
  • 25.10.2024 | Lesedauer: ~ 8 Minuten Aktionssammlung zum 25. November
    Hier findest du eine Sammlung zu Mitmachaktionen, Kampagnen, Veranstaltungen, Websites und Demonstrationen zum 25. November, dem "Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen". Wir werden die Liste von Anfang November bis zum 25.11.24 laufend aktualisieren. Wenn du Tipps hast, sende sie uns gerne über das Kontaktformular. 

[1] Wir orientieren uns u.a. an der Definition von geschlechtsspezifischer und partnerschaftlicher Gewalt von UN Women Deutschland: „Formen der Gewalt gegen Frauen und Mädchen. „Geschlechtsspezifische, partnerschaftliche Gewalt“ verwenden wir synonym für den Begriff „Geschlechtsspezifische Gewalt in Paarbeziehungen“.

[2] Wir wollen hier auch auf die „Definition geschlechtsspezifischer Gewalt des Bündnis Istanbul-Konvention“ (2023) verweisen.

[3] BKA (2022): Partnerschaftsgewalt - Kriminalstatistische Auswertung​

[4] BKA (2022/2023): Bundeslagebild Häusliche Gewalt​

[5] BKA (2023): Polizeiliche Kriminalstatistik

[6] LesMigras (2012): „...nicht so greifbar und doch real”. Eine quantitative und qualitative Studie zu Gewalt und (Mehrfach-)Diskriminierungserfahrungen von lesbischen, bisexuellen Frauen und Trans* in Deutschland.​

[7] BMFSFJ (2013): Lebenssituation und Belastung von Frauen mit Behinderung und Beeinträchtigung in Deutschland. ​

[8] Das Akronym FLINTA* "steht für Frauen, Lesben, inter, nicht-binäre, trans und agender Personen – also Personen, die aufgrund ihrer geschlechtlichen und/oder sexuellen Identität patriarchal diskriminiert werden."

[9] "Cis Männer oder cis Frauen identifizieren sich mit dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugeschrieben wurde. Das Gegenteil von cis ist trans*." (Inklusive Wortwahl, Glossar des Rowohlt Verlags in Zusammenarbeit mit dem Bundesverband Trans*). 

[10] Russell, Diana E. H., and Harmes, Roberta.  (Hrsg.)  2001.  Femicide in Global Perspective.  New York: Teachers College Press.

[11] Leuschner, F., & Rausch, E. (2022). Femizid – Eine Bestandsaufnahme aus kriminologischer Perspektive. Kriminologie - Das Online-Journal | Criminology - The Online Journal, 4(1), 20–37.

[12] Müller, U., & Schröttle, M. (2004): Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Eine repräsentative Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland. Im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.

[13] FRA – Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (2014): Gewalt gegen Frauen: eine EU-weite Erhebung. Ergebnisse auf einen Blick. Agentur der Europäischen Union für Grundrechte.